Auszug aus „Unmusikalische gibt es für mich nicht“, Hermann Schütt*
… Und so setzte ich mich von Anbeginn vor allem auch für Hindemith ein. Aus dieser Haltung heraus wurde auch die Orgelfrage angepackt. Seit 1905 bemühte man sich unter Führung Albert Schweitzers um eine Orgelreform. Weg von der Dick-Zähflüssigkeit der achtfüßigen Reger-Orgel, hin zur Durchsichtigkeit der alten Orgel der Bach-Zeit. Denn Bach, die Polyphonie vom Mittelalter bis zu ihm stand als Ziel auch der offiziellen Musik zur Debatte. Da ich mit zehn Jahren die Schleifladenorgel in Neuengamme zum Kindergottesdienst spielen durfte, mit 14 Jahren im Hauptgottesdienst die Orgel schlug… hatte ich ein lebhaftes Interesse am Neubau der Orgel der Lichtwarkschule. …
Der Elternrat schickte mich nun nach Süddeutschland um dort Orgeln zu studieren. Prof. Willibald Gurlitt (Universität Freiburg) hatte sich von Walcker eine Orgel im Sinne der Alten bauen lassen, wenig 8‘, aber Mixturen und Schleifladen! Diesem Prinzip stimmte ich zu. Nach Hamburg zurückgekehrt, meldete sich Hans Henny Jahnn bei mir. Orgelbauer, Architekt, Schriftsteller. Heute als einer der Bedeutenden geschätzt. Durch Jahnn und Harms, die die Ugrinogemeinde gegründet hatten, eine Kultstätte in neuer Lebensgemeinschaft zu bauen gedachten, wurde die Orgelfrage dramatisch intensiviert; denn Jahnn war ein Vulkan und Phantast. Um ihn scharte sich ein kleiner Kreis vornehmlich aus dem Arbeiterstande, der in idealistischer Weise mit Jahnn daranging, die Schnitger-Orgel der Jakobkirche zu retten, die, völlig unbeachtet, zu verfallen drohte. Die Kirche gab Zustimmung, und so begann die Wiederherstellung der Orgel unter großen Opfern dieses Kreises. Allmählich begannen sich die Fachkreise zu interessieren. Auf Orgeltagungen wirkte Jahnn wie eine Bombe; schärfste Auseinandersetzungen folgten. Nun kamen auch die Organisten. Die Orgel wurde fertig, Günther Ramin spielte bei der Einweihung. Der Kampf um die Schleifladenorgel, die Negierung der 8‘-Basierung, die Mixturen ging weiter. Da ich Kemper-Lübeck seit 1906 kannte, brachte ich Jahnn und Kemper zusammen, und sie bauten ihr Opus in der Lichtwarkschule. Neben der Praetorius-Orgel wurde dieses Werk die erste Orgel im Sinne der Orgelreform. Sie ist wegweisend geworden in manchen Fragen. Leider hat sie trotz ihres einmalig echten Klanges in den Einzelregistern als volles Werk erst nach vielen Abänderungen einigermaßen funktioniert. Trotzdem: Die variable Mensur Jahnns führte eindeutig zum Siege, die Schleiflade ist auch nach 30 Jahren noch entscheidend, und Kemper wurde eine bedeutende Orgelbaufirma. Der Bau der Orgel brachte noch viele Unannehmlichkeiten, da Prof. Schumacher die Gelder für einen zwar repräsentativen, aber bei unseren Mitteln höchst überflüssigen Prospekt entworfen hatte und auch gegen den Willen Jahnns und der Schule durchsetzte, so daß das Werk statt 15000,- 35000,- Reichsmark kostete. Den Unwillen der Bürgerschaft mußte ich völlig unschuldiger Mann ausbaden! …
* Hermann Schütt (*1888-1973) war von 1917-37 Musiklehrer an der Lichtwarkschule und unterrichtete nach den Vorstellungen der damals neuen Jugendmusikbewegung. Nach Auflösung der Schule durch die Nationalsozialisten wurde er an andere Schulen versetzt. Obwohl er Mitglied der NSDAP war, konnte er nach 1945 durch Fürsprache des neuen Schulsenators Landahl, dem ehem. Schulleiter der Lichtwarkschule, in der Lehrerbildung tätig werden.
Auszug aus „Selbstgespräche – Erinnerungen und Betrachtungen“, Fritz Schumacher*
… Schön war unter den Bestrebungen der Schule auf jeden Fall die Rolle, die man der Musik und szenischen Vorführungen zuteilte. In der großen Aula mußte ich ein Podium für zweiundsiebzig Mitwirkende schaffen, und zum erstenmal gestaltete ich unter Anleitung eines Anhängers der neuen Orgelbewegung ein Instrument, das mehr war als die gewöhnlichen Schulorgeln. Nur tönende Pfeifen wurden im Prospekt gezeigt, und ich fand begeisterte Zustimmung, als ich mit diesen nicht nur ein mannigfaltiges Formenspiel, sondern auch ein lebhaftes Farbenspiel entfaltete: ich ließ sie in leuchtenden Farben, die dem Charakter des jeweiligen Tones angepaßt waren, bemalen.
Was eine solche andächtig geschaffene Orgel außerhalb der Schule für eine Aufregung hervorrufen kann, hatte ich nicht geahnt. In den Fachzeitungen entbrannte eine Polemik, die sich in Formen bewegte, die ich bisher nur in den Kontroversen der Altphilologen kennengelernt habe. … (1943)
* Fritz Schumacher (1869-1947), von 1909-33 Oberbaudirektor in Hamburg
Der vollständige Text erschien 1949 im Axel-Springer-Verlag Hamburg.